Viktorianisches Zeitalter

Geschichte

Das Vereinigte Königreich im 19. Jahrhundert ist so eng mit seiner Königin Viktoria verbunden, dass die gesamte Ära ihren Namen trägt. Während ihrer Regentschaft erlebte das Land einen Aufstieg zur führenden Welt- und Wirtschaftsmacht.

 

Von Giacomo Dragone

31/03/2024

1. Königin Viktoria

Als Viktoria am 20. Juni 1837 zur Königin von Großbritannien und Irland gekrönt wurde, ahnte niemand, dass ihr Name eines Tages synonym für das gesamte Jahrhundert stehen würde – das viktorianische Zeitalter. Über einen Zeitraum von mehr als 60 Jahren regierte Viktoria ihr Land.

Während ihrer Regentschaft verlor die Monarchie zunehmend an politischer Macht und wurde zu einer symbolischen Institution. Im 19. Jahrhundert waren es nicht mehr allein das Königshaus und der Adel, die die Geschicke des Landes lenkten, sondern auch Industrielle, Handelsgesellschaften und ambitionierte Politiker wie der britische Premierminister Benjamin Disraeli.

Trotz dieser Veränderungen verkörperte Viktoria sowohl den Aufstieg Großbritanniens zur modernen Weltmacht als auch die Bewahrung bürgerlicher Traditionen und Konventionen. Während ihrer Herrschaftszeit meldeten sich die ersten Frauenrechtsaktivistinnen zu Wort, doch die Königin selbst betrachtete ihre Ziele als überflüssig und moralisch fragwürdig.

2. Die Wirtschaftskraft Englands

Die Entwicklung Englands zur führenden Wirtschaftsmacht des 19. Jahrhunderts wurde maßgeblich durch die industrielle Revolution vorangetrieben, die bereits in ihren Anfängen einen raschen und umfassenden Wandel von handwerklicher Produktion hin zur industriellen Fertigung in England bewirkte.

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern vollzog sich dieser Übergang in England besonders schnell und gründlich. Bestehende demokratische Institutionen wie Parteien, das Parlament und die Pressefreiheit sowie geschickte Wahlrechtsreformen trugen dazu bei, revolutionäre Umwälzungen zu verhindern, die in anderen Ländern Europas stattfanden. Trotz offensichtlicher sozialer Missstände glaubten selbst die Arbeiter daran, dass sie ihre Interessen innerhalb des bestehenden Gesellschaftssystems durchsetzen könnten.

Die Bevölkerung Großbritanniens, einschließlich Irlands, verdoppelte sich von 1830 bis 1901 trotz hoher Auswanderungszahlen von 24 auf 41,5 Millionen Menschen. Dieser enorme Anstieg des Nahrungsmittelbedarfs für eine derart große Bevölkerung wurde durch den Export industrieller Güter und den Import von Nahrungsmitteln und Rohstoffen gedeckt. Daher wurde die Idee des Freihandels und der Abbau von Schutzzöllen für die englische Wirtschaft und Politik von lebenswichtiger Bedeutung.

London zur Zeit des Viktorianischen Zeitalters

3. Die gesellschaftliche Entwicklung

Obwohl Karl Marx und Friedrich Engels ihre sozialistischen Ideen am Beispiel der englischen Industriearbeiter entwickelten, hatten sie wenig direkten Einfluss auf die Arbeiterbewegung im viktorianischen Zeitalter Englands.

Die sozialen Umwälzungen, die durch die Industrialisierung, Verstädterung und den Bau von Eisenbahnen verursacht wurden, betrafen jeden einzelnen Bürger. Diese Veränderungen wurden oft gegen heftigen Widerstand durchgesetzt, da ganze traditionelle Branchen durch die neuen Entwicklungen obsolet wurden. Die Verarmung großer Teile der Bevölkerung in den Ghettos der Industriestädte war offensichtlich.

Trotzdem herrschte ein fester Glaube an den Fortschritt, und der enorme wirtschaftliche Aufschwung zwischen 1845 und 1865 versöhnte viele Briten mit den Veränderungen. Insbesondere für die wachsende Mittelschicht verbesserte sich die Lebensqualität spürbar. Diese Schicht wurde zu einer tragenden Säule der Gesellschaft, deren Werte die Epoche prägten. Die Förderung von Grundbildung für alle Schichten, einschließlich Frauen, wurde zu einer gesellschaftlich anerkannten Aufgabe.

4. Die dunkle Seite

Durch seine frühzeitige Abhängigkeit vom globalen Handel wird England anfällig für Krisen, die auf seinen ausländischen Märkten entstehen. Die Einschleppung der Kartoffelfäule aus Südamerika führt ab 1845 über mehrere Jahre hinweg zu einer verheerenden Hungersnot in Irland, bei der 1,5 Millionen Menschen sterben.

Die Regierung in London bleibt untätig angesichts dieser Katastrophe. Bis 1855 verlassen mehr als 2,1 Millionen Menschen die Insel, wobei die Mehrheit in Richtung der Vereinigten Staaten zieht.

Auch in England selbst wird verstärkt versucht, soziale Probleme durch die Förderung der Auswanderung betroffener Gruppen zu bewältigen, anstatt die zugrunde liegenden Ursachen anzugehen. Zwischen 1815 und 1875 verlassen neben den bereits erwähnten Iren weitere fünf Millionen Menschen England, um sich langfristig in Ländern wie den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Neuseeland, Indien oder Südafrika niederzulassen.

Zeichnungenaus dem viktorianischen Zeitalter

5. Die Epoche des Imperialismus

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts expandiert das britische Reich eher sporadisch, abhängig von den Gebieten, die von Handelsgesellschaften erschlossen werden. Strategische Überlegungen der Marine sind für die Seemacht England oft wichtiger als der Wunsch, Länder zu kolonisieren. Einige Gebiete gelangen auch nur aufgrund veränderter Machtverhältnisse in Europa unter die Krone (zum Beispiel nach den Napoleonischen Kriegen gegen Frankreich).

Ab 1850 beginnt sich diese Dynamik grundlegend zu ändern. Die Industrie benötigt zunehmend mehr Rohstoffe, und vor allem Deutschland und die Vereinigten Staaten entwickeln sich zu Konkurrenten, die ähnliche Märkte erobern wollen. Zudem treibt der missionarische Eifer der viktorianischen Puritaner diesen Wandel voran.

Unter Einsatz des Militärs werden deshalb vermehrt Gebiete zu Kolonien gemacht, deren Rohstoffe und Märkte vollständig kontrolliert werden sollen. Dadurch sollen bereits bestehende Handelsbeziehungen gesichert (zum Beispiel in Indien und Hongkong) oder wachsende Rohstoffnachfragen befriedigt werden (Afrika).

Langfristig stehen solche Entwicklungen im Widerspruch zum ursprünglichen Konzept des Freihandels. Dennoch ist die Idee des Imperialismus unter den führenden Nationen der Zeit weltweit so weit verbreitet, dass niemand ihre Rechtmäßigkeit anzweifelt. Die Tatsache, dass Englisch bis heute als die dominierende Weltsprache gilt, ist eine Spätfolge des britischen Imperialismus.